Im letzten Blogbeitrag hatte ich den Gamification-Kompass vorgestellt. Er hilft mir gezielt nach solchen Spielelementen Ausschau zu halten, die selbstbestimmte Lernmotivation & sinnbildendes Lernen ermöglichen.
In den nächsten vier Blogbeiträgen werde ich auf die einzelnen Kompass-Quadranten eingehen und dazu passende Spielelemente aus meiner Sammlung bzw. aus meinem „Methodenkoffer“ vorstellen. Zuvor möchte ich aber darauf eingehen, was den Inhalt dieser Sammlung, also die Spielelemente, kennzeichnet.
Was genau sind Spielelemente?
Auf das Bild des Gamification-Dschungels übertragen, ist der Methodenkoffer quasi eine Sammlung an Exponaten oder Proben, die ich von meinen Expeditionen mitgebracht habe. Diese Sammlung besteht also aus verschiedenen Spielelementen, die meines Erachtens besonders hilfreich sind, wenn man ein Lernangebot gamifizieren möchte.
Aber was genau sind eigentlich diese Spielelemente? Bei einer flüchtigen Auseinandersetzung mit dieser Frage besteht die Gefahr, dass man einige sehr wertvolle Dinge übersieht.
Denn was meistens zuerst auffällt, sind die Elemente an der “Oberfläche:“ Spielfiguren, Punkte, Badges, Spielfelder, Level, Ranglisten, Würfel, Spiel-Optik … Diese Elemente sind sehr wertvoll, wenn man ein Lernangebot gamifizieren möchte – es sind aber keineswegs die einzigen.
Bleibt man auf der Ebene der “oberflächlichen Spielelemente”, besteht außerdem die Gefahr, dass man Bestechungs-, Pointsification- oder Zombification-Systeme entwickelt, die (zu) sehr auf extrinsisch motivierende Spielelemente setzen – und damit häufig keine selbstbestimmte Lernmotivation & sinnbildendes Lernen ermöglichen.
Eine Frage der Perspektive
Für mich zählt zu Spielelementen alles, was man durch die Spielebrille entdeckt. Das sind neben den offensichtlichen Komponenten von Spielen v.a. Spielmechaniken und -dynamiken sowie bewährte Game Design-Prinzipien.
Ich habe also ein eher weites Verständnis von Gamification: Meines Erachtens kann man immer dann von Gamification sprechen, wenn man auf irgendeine Weise Anleihen bei Spielen macht. Dabei ist es für mich unerheblich, ob das fertige Lernangebot einen spielerischen Charakter hat oder nicht. Gamification kann zu spielerischen Erlebnisse führen, muss es aber nicht.
Komponenten, Mechaniken & Design-Prinzipien
Um unter die Oberfläche von Spielen zu gelangen, hilft mir zum Beispiel der Ansatz von Werbach & Hunter (2012, 2015). Die beiden Autoren haben eine Kategorisierung vorgenommen, die drei Stufen unterscheidet: Dynamiken, Mechaniken und Elemente.
Auch wenn ich dem Ansatz und seiner Terminologie nicht zu 100% folge – insbesondere bei den konkreten Beispielen dafür, was eine Komponente, was eine Mechanik und was eine Dynamik ist – so hilft mir Werbachs & Hunters Spielelement-Hierarchie nichtsdestotrotz, den Blick bewusst unter die Oberfläche von Spielen zu werfen und sozusagen “tiefgründigere Spielelemente” zu finden.
Super-Combos
Für mich ist ein wesentlicher Unterschied zwischen (Educational) Game Design und Gamification, dass man im ersten Fall ein in sich geschlossenes System schafft, dass eine Vielzahl an Spielelementen umfasst, wohingegen man im zweiten Fall einzelne Spielelemente in spielfremden Kontexten anwendet. Das heißt aber natürlich nicht, dass man bei Gamification nicht mehrere Spielelemente kombinieren kann. Ganz im Gegenteil.
Man kann verschiedene Spielelemente kombinieren und so “Super-Combos” aus Spielelementen schaffen, die in Lernangeboten gut zusammenwirken. Solche Combos kann man selbst zusammenstellen, passend zu den eigenen Rahmenbedingungen und Anforderungen.
Man kann aber auch vorgefertigte Combos (bzw. Gamification-Ansätze) nutzen, die sich in der Praxis in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Zielgruppen bereits bewährt haben. Einige Beispiele möchte ich hier vorstellen.
Quest-basiertes Lernen
Ein Ansatz, dem ich gerne folge, ist das Quest-basierte Lernen. Eine Quest ist eine vordefinierte, meist gut überschaubare Herausforderung. Man könnte auch sagen, es ist eine „Aufgabe“ oder ein „Arbeitsauftrag“ – das klingt natürlich gleich viele weniger spielerisch (siehe hierzu auch den nachfolgenden Artikel zum Kompass-Quadranten Bedeutung).
Häufig werden eine Reihe solcher Quests zusammengefasst. Anhand der einzelnen Quests spielt/arbeitet man sich dann Stück für Stück voran, um eine größere Mission (ein komplexeres Problem) erfolgreich abzuschließen. Denn mit jeder Quest steigen die Herausforderungen und man erlernt mehr und mehr Kompetenzen und Inhalte, die einem bei der Bewältigung der Mission als Ganzem helfen.
Das Quest-Modell ermöglicht Kompetenzerleben, z.B. durch Problemorientierung und Feedback (welche Quests stehen an, wie sieht es mit der gesamten Mission aus?). Es kann auch Selbstbestimmung ermöglichen, z.B. durch Auswahloptionen bei den anstehenden Quest. Darüber hinaus ist es sehr flexibel und lässt sich hervorragend mit anderen Spielelementen, die Bedeutung (z.B. Story, narrative Elemente) oder Einbindung schaffen.
Das Quest-Modell schafft eine spielähnliche Grundstruktur und erlaubt es sehr gut, weitere Spielelemente einzubinden.
Praxis-Tipp für die Schule: An den Quest 2 Learn-Schulen wird das Quest-Modell angewendet (wie auch viele andere interessante spielebasierte Lernmethoden). Ein schönes und anschauliches Beispiel für das Q2L-Prinzip ist die Lerneinheit Dr. Smallz.
Praxis-Tipp: Informationen, u.a. dazu wie eine Mission generell gestaltet werden kann und wie man für soziale Einbindung sorgt, findet man auch bei Matthew Farber (2015, S. 130-138). Er geht auch auf das Player Journey Framework von Amy Jo Kim (2018, S. 129-140) ein, das hilfreich ist wenn es um den Aspekt Einbindung geht.
Hinweis: Die Praxis-Tipps und Beispiele in diesem Artikel beziehen sich auf Schule bzw. Lehre und können dort bei der Entwicklung unterschiedlichster Lernangebote berücksichtigt werden, sei es eine Unterrichtsstunde, Hausaufgaben, Arbeitsblätter, ganze Unterrichtseinheiten, digitale Lernmodule, die Gestaltung eines Kursraums oder einer Präsentation, usw. Selbstverständlich lassen sich die Praxis-Tipps und Beispiele aber auch auf andere Lerngebiete übertragen.
All-Inclusive-Ansätze
Nicht nur die Q2L-Schulen praktizieren quest-basiertes Lernen. Es gibt weitere Gamification-Ansätze, die ebenfalls von Quests ausgehend eine Vielzahl an Spielelementen einbinden.
Lee Sheldon hat mit Multiplayer Classroom (2012) einen der ersten umfassenden Design-Vorschläge explizit für Lernszenarien gemacht, den ich ebenfalls (im Schulunterricht) angewendet habe. Bei ihm stehen Elemente aus Rollenspielen im Vordergrund u.a. Avatare, Gilden und Spielwelten, in denen Lehrende als Game Master auftreten und die Lernenden dabei begleiten, wie sie sich während des Lernprozesses wortwörtlich hochleveln.
Wenn es um Quest-basiertes Lernen geht, erarbeite ich mir zunächst eine Grundstruktur […] Anschließend suche ich dann nach weiteren Elementen […].
Für mich persönlich bietet sein Buch viele praktische Anregungen. Jedoch fiel es mir anfangs schwer, die vielfältigen Elemente zu einem homogenen Ganzen zusammenzufügen. Wenn man selbst Rollenspielerfahrung hat, mag dies vielleicht anders sein. Ich behelfe mir inzwischen so: Wenn es um quest-basiertes Lernen geht, erarbeite ich mir zunächst eine Grundstruktur – wie z.B. beim Ansatz von Roman Rackwitz (s.u.) oder Matthew Farber (2015, S. 130-138). Weitere Elemente, die ich einbinden kann, suche ich im Anschluss.
Praxis-Tipp für die Schule: Michael Matera gibt in XPlore like a Pirate (2015) Schritt für Schritt Hinweise zum Design eines gamifizierten Unterrichtsangebots. Ausgehend von Story-Elementen, die für einen ansprechenden Kontext sorgen (siehe den nachfolgenden Beitrag zu „Bedeutung“) erläutert er, wie diverse Spielelemente – auch Quests – nach und nach in den eigenen Schulunterricht integriert werden können. Außerdem bietet er über sein gesamtes Buch hinweg ein Beispiel dafür, wie ein Inhalt (Gamification) mit einem Thema (Erkundung, Piraten, Abenteuer) besondere Bedeutung erhalten kann.
Jane McGonigal, Autorin des sehr lesenswerten Reality is Broken (2012, dt. Besser als die Wirklichkeit!) beschreibt in Gamify your Life (2016) eine Herangehensweise, die prinzipiell auch für die Gestaltung von Lernangeboten genutzt werden kann. Neben Quests stehen bei ihr die Elemente Power-ups, Bösewichte & Verbündete, geheime Identitäten und epische Siege im Mittelpunkt. Mit diesen Elementen arbeitet sie auch in ihrem Angebot Superbetter.
Beispiel für Quest-basierte Lehre: Ortho & Graf
Beispiel für Quest-basierten Schulunterricht: Professor S.
Quest-basierte LMS
Die bis hierhin genannten „Super-Combo-Ansätze“ können zur Gestaltung von digitalen wie nicht-digitalen Lernangeboten herangezogen werden. Für den digitalen Bereich gibt es außerdem vorgefertigte gamifizierte Lernplattformen bzw. Lernmanagementsysteme (LMS), die ebenfalls auf der Idee des Quest-basierten Lernens fußen.
Beispiel für Quest-basierte LMS: Daniel Jurgeleit beschreibt in Computer + Unterricht 115 (2019, S. 40-43) den Einsatz von Classcraft, dem vielleicht bekanntesten gamifizierten LMS.
Wichtig beim Einsatz solch eines gamifizierten LMS ist, dass es angemessen didaktisch aufbereitet in den Unterricht eingebunden wird. Sonst besteht – wie so oft – Zombification-Gefahr (Conway, 2014).
Kompetenzerleben durch Skill Trees
Quests können auch gut mit dem Prinzip des Skill Trees verknüpft werden. Nicht nur in digitalen Gamification-Systemen, sondern auch bei allen anderen Lernformaten. Roman Rackwitz hat in diesem Sommer eine Reihe an Videos veröffentlicht, in denen er eingehend erläutert wie das Prinzip Skill Tree umgesetzt werden kann.
Praxis-Tipp für die Schule: Roman Rackwitz‘ Videos bieten viele weitere wertvolle Gamification-Tipps, z.B. wie man weg kommt vom Fokus auf extrinsische Faktoren (Belohnungen), hin zur Gestaltung ansprechender Lernaktivitäten.
Unendliche Weiten… mit Leitplanken
Wenn man sich mit unterschiedlichen Gamification-Ansätzen auseinandersetzt, fällt natürlich auf, dass es neben den Ähnlichkeiten auch zahlreiche Unterschiede gibt. Jede Herangehensweise zieht aus Spielen das heraus, was für den jeweiligen Arbeitsbereich eben am interessantesten ist.
Das ist sicherlich nicht nur der Tatsache geschuldet, dass jeder aus einer anderen Fachperspektive an Gamification herantritt. Ich denke es liegt auch daran, dass Spiele einfach alles Mögliche bieten: an Komponenten, Mechaniken und Dynamiken; an Spielwelten, -orten und -modi; an Regeln und Zielen und natürlich an interessanten Herausforderungen.
Somit ist die Vielfalt an möglichen Super-Combos theoretisch unendlich. Im Kontext Schule und Hochschule gibt es jedoch didaktische Leitplanken, denn es gilt relevante Bedingungs- und Entscheidungsfelder zu berücksichtigen (Kerres, 2018). Wie etwa die gegebenen Rahmenbedingungen, die (eventuell vorgegebenen) Lernziele & Lerninhalte und zuvorderst die Zielgruppe.
Praxistipp für die Gestaltung gamifizierter Lernangebote: Das Gamification-Design mit didaktischen Bedingungs- und Entscheidungsfeldern (z.B. bei Kerres, 2018, S. 229) abstimmen. Rahmenbedingungen, Zielgruppe, Lernziele & -inhalte entsprechend analysieren und beachten. Geeignete Spielelemente kommen dann als Methoden, Medien oder aber als Teil der Lernorganisation zum Einsatz bzw. sind Teil der Lernergebnisse.
Game Design-Prinzipien
Nicht nur das, was man in Spielen selbst „vorfindet“ – also einzelne Spielelemente (Komponenten und Mechaniken) oder Supercombos – kann man von Spielen abschauen. Sondern auch die dahintersteckenden Design-Prinzipien. Zuvor hatte ich angemerkt, dass ich Werbach & Hunters Terminologie (2012) nicht zu 100% folge. Denn das, was sie teilweise unter „Dynamiken“ aufführen, sind für mich solche Prinzipien.
Zum Beispiel, dass man gezielt Einschränkungen vornimmt: Wahlmöglichkeiten fördern zwar das Selbstbestimmungserleben. Zu viele Wahlmöglichkeiten überfordern aber auch. Die Lösung: eingeschränkte, bedeutsame Wahlmöglichkeiten (Schell, 2015).
Oder das Prinzip, eine Progression/einen erlebbaren Fortschritt zu designen, um das Kompetenzerleben zu fördern (z.B. durch Scaffolding).
Es lassen sich weitere solcher Game Design-Prinzipien ausmachen, die auch in Lernsituationen angewendet werden können: Die Hervorhebung des State of play, also das bewusste Fördern der Risikobereitschaft und damit der Bereitschaft Fehler zu machen (weil diese im gegebenen Kontext möglich sind). Oder auch die Arbeit mit einheitlichen Visuals, also mit einer einheitlichen, bedeutungsvollen Ästhetik (Deterding, 2011, Folie 52).
Hidden Content
Bleibt noch der in der Überschrift erwähnte „Hidden Content.“ Das sind für mich persönlich momentan noch eher unscheinbare Spielelemente. Bzw. Elemente, die bei der Arbeit mit dem Kompass nicht direkt in meinem Blickfeld auftauchen.
Dazu zählen – nicht nur für mich – z.B. Sinneserfahrungen (Chou, 2014), insbesondere Sounds und Musik, die auch in Spielen auf uns wirken. Die App Kahoot arbeitet beispielsweise mit dem Element der „Game Show-Musik.“
Ein anderes Beispiel sind Überraschungen und andere Spannung erregende Elemente, etwa die von Roman Rackwitz im Video oben erwähnten Cliffhanger.
Diese Spielelemente erarbeite ich mir bislang unsystematisch und eher nebenher. Durch den Begriff „Hidden Content“ habe ich aber zumindest eine kleine Erinnerung für mich geschaffen, im Gamification-Dschungel immer wieder die Augen für Neues offen zu halten.
Soweit dazu, was den Inhalt meines Gamification-Methodenkoffers ausmacht. In den kommenden Artikeln werde ich auf einzelne Spielelemente eingehen, die den vier Kompass-Quadranten zugeordnet werden können.
Literatur & Links
Chou, Yu-Kai (2014). Actionable Gamification. Beyond Points, Badges and Leaderboards, Milpitas, CA: Octalysis Media.
Conway, S. (2014). Zombification?: Gamification, motivation, and the user. Journal of Gaming & Virtual Worlds, aufgerufen am 08.10.2019.
Deterding, S. (2011). Meaningful Play. Getting »Gamification« Right. Presentation, Google Tech Talk, January 24, 2011, Mountain View, CA, aufgerufen am 08.10.2019.
Farber, M. (2015). Gamify your classroom. A field guide to game-based learn- ing (New literacies and digital epistemologies, Vol. 71). New York: Peter Lang.
Jurgeleit, D.(2019). Classcraft – Rollenspiel trifft Unterricht. Ein Schuljahr voller Heldentaten und Herausforderungen. Computer + Unterricht 115, Hannover: Friedrich Verlag, S. 40-43.
Kerres, M. (2018): Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote, 5. Auflage, Oldenburg: De Gruyter.
Kim, Amy Jo (2018). Game Thinking. Burlingame, CA: gamethinking.io
Matera, M. (2015). EXplore Like a Pirate. San Diego, CA: Dave Burgess Consulting, Inc.
McGonigal, J. (2012). Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and HowThey Can Change the World (Reprint). New York: Penguin Books.
McGonigal, J. (2016). Gamify Your Life. Freiburg: Herder.
Rackwitz, R. (2019). Story, Fortschritt und Cliffhanger im Unterrichtsdesign, YouTube, aufgerufen am 08.10.2019.
Schell, J. (2015). The art of game design. A book of lenses (Second edition). Boca Raton: CRC Press.
Sheldon, L. (2012). The Multiplayer Classroom. Designing Coursework as a Game, Boston, MA: Coursework Technology.
Werbach, K & Hunter, D. (2012). For the Win. Philadelphia: Wharton Digital Press.
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Wie der Titel verrät: Dieses Themenspecial ist meinem Arbeitsschwerpunkt „Gamification in Schule und Hochschule“ gewidmet. Ich befasse mich seit 2009 mit der Entwicklung und dem Einsatz von spiele-basierten Lernformen wie Gamification und GBL im sekundären und tertiären Bildungsbereich. Als Lehrer habe ich u.a. gamifizierte Lerneinheiten erstellt und im Unterricht eingesetzt. Im Rahmen meiner mediendidaktischen Arbeit berate ich außerdem Hochschullehrende zum Thema Gamification, seit 2017 auch in Workshops. Dieses Themenspecial ist aus den Inhalten dieser Workshops entstanden.
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